Die Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft

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Eine freie Mitgliedergesellschaft
mit der darin eingebetteten
«Freien Hochschule für Geisteswissenschaft»

die
«modernste Gesellschaft, die es geben kann»

«Es ist der Versuch gemacht worden, mit alldem, was Vereinswesen ist, zu brechen und das Geistige durchscheinen zu lassen durch jede einzelne Handlung, die geschah. Aber das Geistige hat einmal - ich habe das öfter erwähnt - seine eigenen Gesetze.»

Rudolf Steiner:
Der organische Werdegang der Anthroposophischen Gesellschaft und ihre Zukunftsaufgaben
Vortrag, Dornach 18. Januar 1924, GA 260a

Die «Anthroposophische Gesellschaft», die während der Weihnachtstagung 1923/1924 in Dornach gegründet wurde, sollte nach Rudolf Steiners Worten die «modernste Gesellschaft, die es geben kann» werden. An eine Mitgliedschaft wurde im Grunde keinerlei Bedingung geknüpft. Wahrscheinlich gibt es für jeden Kleingärtnerverein oder dergleichen erheblich mehr Bedingungen und Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft.

Im 4. Paragraphen der Statuten dieser «Anthroposophischen Gesellschaft», die fälschlicherweise meist nur unter der Bezeichnung ‹Prinzipien› bekannt wurden, heißt es zur Mitgliedschaft:

«Die Anthroposophische Gesellschaft ist keine Geheimgesellschaft, sondern eine durchaus öffentliche. Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht. Die Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihrer Aufgabe liegend.»

Die einzige Bedingung für eine Mitgliedschaft war also:
Ein Mitglied musste in einer Institution wie dem Goetheanum etwas Berechtigtes sehen! Darauf wies Rudolf Steiner bei der Vorstellung der «Statuten der Weihnachtstag» mit Nachdruck hin.

«Sie sehen, meine lieben Freunde, es ist sogar die Vorsicht gebraucht, daß nicht einmal hier, wo es exakt darauf ankommen muß, wodurch man Mitglied werden kann, nicht einmal hier gesagt ist, daß derjenige, der Mitglied werden will, in dem Bestand des Goetheanums, sondern nur «einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht.» - Sie müssen sich alle einzelnen Wendungen dieses Statuten-Entwurfes entsprechend gründlich überlegen. Er ist kurz. Statuten sollen kurz sein, sollen nicht ein Buch darstellen; aber Sie werden sehen, es ist jede einzelne Wendung so zu geben versucht, daß sie aus dem unmittelbaren Bewußtsein heraus geschrieben ist.»

Rudolf Steiner:
«Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft»
1923/1924 GA 260

Schon im Namen des oben erwähnten Buches («Die Weihnachtstagung zur Begründung der «Allgemeinen› Anthroposophischen Gesellschaft», GA 260) wird die auf diesen Internetseiten dargestellte Problematik sichtbar. An der Weihnachtstagung 1923/1924 wurde die «Anthroposophische Gesellschaft» gegründet, und nicht wie im Buchtitel suggeriert die «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft». Letztere ist 1925 aus dem «Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» hervorgegangen.
Leider muss man sagen, dass diese freie Gesellschaft nur für eine sehr kurze Zeit Bestand hatte. Nach Rudolf Steiners Tod kam es unter seinen engsten Schülern durch unterschiedlichste Meinungsverschiedenheiten zu den heftigsten Streitigkeiten. Die Ursachen dafür lagen größtenteils in Missverständnissen sowie im Menschlichen, Allzumenschlichen. Gruppenbildungen, Isolationen von Einzelmitgliedern oder ganzen Gruppen sowie Abspaltungen waren die Folge. Einzelne Mitglieder und sogar ganze Landesgruppen wurden aus der «modernsten Gesellschaft, die es geben kann», ausgeschlossen.

Wie war so etwas überhaupt möglich?

Wie können aus einer freien Gesellschaft ganze Mitgliedergruppen ausgeschlossen werden, obwohl es für die Mitgliedschaft im Grunde gar keine Aufnahmebedingungen gibt?

Was damals geschah, konnten die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» beim besten Willen nicht verstehen. Warum nicht? Als ‹einfache Mitglieder› kannten sie größtenteils nur die ‹freiheitlichen› Gründungsstatuten der «Anthroposophischen Gesellschaft» von 1923/24. Aber mit diesen Statuten waren solche Mitgliederausschlüsse völlig unvereinbar und nicht zu erklären.
Zur Erklärung der Mitgliederausschlüsse von 1935 mussten deshalb die Statuten der hierarchisch strukturierten «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» mit deren «Ausschluss-Paragraph» herhalten. Dieser Verein war aus dem «Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» hervorgegangen, was auch in der amtlichen Bescheinigung aus dem Jahre 1962 bestätigt wird. In seiner Vereinsstruktur war dieser «Bauverein» schon immer hierarchisch aufgebaut. Das hatte auch seinen Sinn, denn er war u.a. Vermögensbesitzer und Verwalter des Goetheanums. Deshalb hatte dieser hierarchisch strukturierte «Bauverein» von Anfang an nur sehr wenige, stimmberechtigte Mitglieder. Es gab in diesem «Bauverein» auch schon immer einen Satzungsparagraphen, nach dem der Vorstand – ohne Angabe von Gründen – Mitglieder aus dem Verein ausschließen konnte.
Die Gründungsstatuten der freien Mitgliedergesellschaft mit dem Namen «Anthroposophischen Gesellschaft» wurden nach dem Mitgliederausschluss von 1935 nur noch «Prinzipien» genannt. Nach ‹Prinzipien› wollte oder sollte man handeln, man musste es im Ernstfall aber nicht mehr, denn sie haben im Dezember 1925 ihre Rechtsverbindlichkeit verloren!
Mitgliederausschlüsse, die auf der Grundlage der autoritären Vereinssatzung des ehemaligen Bauvereins «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» begründet wurden, gab es auch noch danach, so z.B. 1963 für mehrere Mitglieder, die sich in dieser Sache engagiert und ihre Forschungsergebnisse öffentlich publiziert hatten.

So haben wir es seit über 90 Jahren mit der Vermischung von zwei völlig unterschiedlichen Einrichtungen zu tun, einer freien und modernen Mitgliedergesellschaft einerseits und einem hierarchisch strukturierten Verwaltungsverein andererseits. Hat der «gemischte König» (‹Das Märchen› von Goethe) die Herrschaft übernommen?

Anthroposophische Gesellschaft

Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft

Vorgänger-Gesellschaften:

«Theosophische Gesellschaft»
1902-1912

«Anthroposophische Gesellschaft»
1912-1923

Vorgänger-Gesellschaften:

«Johannesbau-Verein»
1913-1918

«Verein des Goetheanum»
1918-1925

Freie "Mitglieder-Gesellschaft"

Viele Mitglieder weltweit
(ca. 12.000)

Hierarchisch gegliederter Verein

Wenige stimmberechtigte Mitglieder
(vor der Namensänderung nur 15)

Keine Bedingungen für Mitgliedschaft

Kein Ausschluss-Paragraph

Nur ausgewählte Mitglieder

Ausschluss ohne Angabe von Gründen möglich

Ziel:
Freie (modernste) Gesellschaft,
ohne Bedingungen oder Voraussetzungen
für eigeninitiative Mitglieder

Ziel:
Besitzer und Verwalter des Goetheanums
sowie anderer Vermögens-Einrichtungen,
administrative Aufgaben

Die freie «Anthroposophische Gesellschaft» (s. obere linke Spalte) hatte zu Rudolf Steiners Zeit ca.12.000 Mitglieder.

Um verstehen zu können, weshalb es nach Rudolf Steiners Tod zu den verheerenden Missverständnissen kommen konnte, ist es wichtig, dass man sich darüber bewusst wird, dass die allermeisten Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» nur diese Gesellschaft kannten, mit den Statuten, die während der Weihanchtstagung ausführlich besprochen worden sind. Diese Statuten kannten die 12.000 Mitglieder, darüber waren sie informiert.

Was in dem «Bauverein» geschah und beschlossen wurde, von den teilweise sehr komplizierten Rechtsvorgängen des hierarchisch strukturierten «Verein des Goetheanum», darüber hatten die allerwenigsten Mitglieder der «Anthroposophische Gesellschaft» genauere Kenntnisse (s. obere rechte Spalte).

Auf den zwei folgenden Hauptseiten versuche ich die geschichtlichen Vorgänge so zu schildern, dass sie auch von einem in dieser Sache noch Unkundigen nachvollziehbar sein können. Um dies dies zu ermöglichen, muss ich die teilweise sehr komplexen Vorgänge ganz bewusst nur in den grundlegendsten Zügen darstellen und darf mich nicht in Einzelheiten verlieren. Ich hoffe dadurch zu erreichen, dass der unbefangene Blick die wesentlichsten Vorgänge erkennen kann, ohne dass wegen der schier unüberschaubaren Faktenvielfalt der Überblick und das Interesse an diesem dramatischen Geschehen schon in den Anfängen verloren geht.

Unterseiten in chronologischer Folge

  • Die Ausgangssituation

    In seiner Autobiographie «Mein Lebensgang» schildert Rudolf Steiner seine frühkindliche Hellsichtigkeit. Die geistige Welt ist für den achtjährigen Knaben genauso real und wahrnehmbar wie die sinnlich-physisch Welt. Bald bemerkt er aber, dass die Menschen in seiner Umgebung die geistige Welt nicht so wahrnehmen können wie er. Es ist ihm deshalb kaum möglich, mit ihnen über seine Wahrnehmungen zu sprechen.

    «Denn die Wirklichkeit der geistigen Welt war mir so gewiss wie die der sinnlichen. Ich hatte aber eine Art Rechtfertigung dieser Annahme nötig. Ich wollte mir sagen können, das Erlebnis von der geistigen Welt ist ebenso wenig eine Täuschung wie das von der Sinnenwelt. Bei der Geometrie sagte ich mir, hier darf man etwas wissen, was nur die Seele selbst durch ihre eigene Kraft erlebt; in diesem Gefühle fand ich die Rechtfertigung, von der geistigen Welt, die ich erlebte, ebenso zu sprechen wie von der sinnlichen. Und ich sprach so davon. Ich hatte zwei Vorstellungen, die zwar unbestimmt waren, die aber schon vor meinem achten Lebensjahr in meinem Seelenleben eine große Rolle spielten. Ich unterschied Dinge und Wesenheiten, "die man sieht" und solche, "die man nicht sieht".»

    Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28

    Handelt es sich bei Rudolf Steiners geistiger Hellsichtigkeit nur um krankhafte Wahnvorstellungen? Auch dazu nimmt er in seiner Autobiographie Stellung:

    «Ich erzähle diese Dinge wahrheitsgemäß, trotzdem die Leute, welche nach Gründen suchen, um die Anthroposophie für phantastisch zu halten, vielleicht daraus den Schluss ziehen werden, ich wäre eben als Kind schon phantastisch veranlagt gewesen; kein Wunder, dass dann auch eine phantastische Weltanschauung sich in mir ausbilden konnte.

    Aber gerade deshalb, weil ich weiß, wie wenig ich später meinen persönlichen Neigungen in der Schilderung einer geistigen Welt nachgegangen bin, sondern nur der inneren Notwendigkeit der Sache, kann ich selbst ganz objektiv auf die kindlich unbeholfene Art zurückblicken, wie ich mir durch die Geometrie rechtfertigte, dass ich doch von einer Welt sprechen musste, «die man nicht sieht».

    Nur das muss ich auch sagen: ich lebte gerne in dieser Welt Denn ich hätte die Sinnenwelt wie eine geistige Finsternis um mich empfinden müssen, wenn sie nicht Licht von dieser Seite bekommen hätte.»

    Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28

    Ganze 30 Jahre dauert es, bis Rudolf Steiner endlich auf Menschen trifft, zu denen er offen über das sprechen kann, was für ihn seit seiner Kindheit eine Selbstverständlichkeit ist.
    Im September 1900 wird Rudolf Steiner eingeladen, vor Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft einen Vortrag zu halten. Hier trifft er auf Menschen, die ein echtes Interesse an geistigen Fragen haben.

    Im Rückblick darauf schreibt Rudolf Steiner darüber:

    «Nun bemerkte ich, dass innerhalb der Zuhörerschaft Persönlichkeiten mit großem Interesse für die Geistwelt waren. Ich schlug daher, als man mich aufforderte, einen zweiten Vortrag zu halten, das Thema vor: «Goethes geheime Offenbarung». Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen.»

    Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28

    Rudolf Steiner wird jetzt gebeten, regelmäßig vor den Mitgliedern der Theosophischen Gesellschaft Vorträge zu halten.

    «Ich erklärte, dass ich aber nur über dasjenige sprechen könne, was in mir als Geisteswissenschaft lebt. Ich konnte auch wirklich von nichts anderem sprechen. Denn von der von der «Theosophischen Gesellschaft» ausgehenden Literatur war mir sehr wenig bekannt.
    ...
    So hielt ich denn meine Vorträge, indem ich an die Mystik des Mittelalters anknüpfte. Durch die Meinungen der Mystiker von Meister Eckhard bis zu Jacob Böhme fand ich die Ausdrucksmittel für die geistigen Anschauungen, die ich eigentlich darzustellen mir vorgenommen hatte. Ich fasste dann die Vorträge in dem Buche zusammen «Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens».»

    Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28

    Im November 1900 lernt Rudolf Steiner bei einem dieser Vorträge Marie von Sivers, seine spätere Frau, kennen.

  • 1902 - 1912: Theosophischen Gesellschaft

    1902 wird Rudolf Steiner selbst Mitglied der Theosophischen Gesellschaft und kurz darauf Generalsekretär der neu begründeten «Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft». Rudolf Steiner übernimmt dieses leitende Amt unter der Bedingung, dass Marie von Sivers ihn bei dieser Aufgabe als Sekretärin unterstützt.

    Vor der Zuhörerschaft innerhalb dieser «Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft» kann Rudolf Steiner seine anthroposophische Tätigkeit entfalten. Von Anfang an weist er darauf hin, dass er nicht esoterische Überlieferungen referiert, sondern nur von dem berichtet, was er auf geistigem Gebiet selbst erforscht hat.

    «Niemand blieb im Unklaren darüber, daß ich in der Theosophischen Gesellschaft nur die Ergebnisse meines eigenen forschenden Schauens vorbringen werde. Denn ich sprach es bei jeder in Betracht kommenden Gelegenheit aus. Und als in Berlin im Beisein von Annie Besant die «Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft» begründet und ich zu deren General-Sekretär gewählt wurde, da mußte ich von den Gründungssitzungen weggehen, weil ich einen der Vorträge vor einem nicht-theosophischen Publikum zu halten hatte, in denen ich den geistigen Werdegang der Menschheit behandelte, und bei denen ich im Titel: «Eine Anthroposophie» ausdrücklich hinzugefügt hatte. Auch Annie Besant wußte, daß ich, was ich über Geistwelt zu sagen hatte, damals unter diesem Titel in Vorträgen vorbrachte.»

    Rudolf Steiner: Mein Lebensgang, GA 28

    Rudolf Steiner knüpft zwar als Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in seinen Vorträgen und Schriften noch an die theosophische Terminologie an, er vertritt und entwickelt aber von Anfang an nur die Ergebnisse seines eigenen Forschens.

    Nachdem jedoch führende Theosophen in dem Hinduknaben Jiddu Krishnamurti die Wiedergeburt des Jesus zu erkennen glaubten, trennt sich Rudolf Steiner 1913 von der deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft. Sein christlich-esoterischer Schulungs- und Erkenntnisweg ist nicht weiter mit den Lehren der führenden Theosophen vereinbar.

    So kommt es im Jahre 1913 zur Gründung der «Anthroposophischen Gesellschaft».

  • 1912 - 1923: Anthroposophische Gesellschaft

    Nach den Vorbereitungen im Dezember 1912 in Köln wird am 3. Februar 1913 in Berlin mit einer konstituierenden Versammlung die «Anthroposophische Gesellschaft» gegründet. Viele Mitglieder der Theosophischen Gesellschaft schließen sich dieser neuen Anthroposophische Gesellschaft an, die bald über 3000 Mitglieder aus unterschiedlichsten Ländern zählt.

    Michael Bauer, Marie von Sivers und Carl Unger, drei der engsten Mitarbeiter Rudolf Steiners, bilden den Gründungsvorstand dieser neuen Gesellschaft.

    Rudolf Steiner selbst übernimmt in der «Anthroposophischen Gesellschaft» keinerlei offiziellen Ämter, er wird «Ehrenpräsident», ohne selbst Mitglied zu werden. Rudolf Steiner beschränkt sich vielmehr auf seine Aufgabe als Lehrer für die anthroposophische Geisteswissenschaft. So kann er, ohne äußere Verantwortung übernehmen zu müssen, in Freiheit als Geisteslehrer im Rahmen dieser neugegründeten Gesellschaft wirksam werden.

    Vor und während des ersten Weltkrieges wird der Goetheanumbau geplant und in Dornach - in der Schweiz - realisiert.

    In den zehn Jahren von 1913 bis 1923 durchlebt die Anthroposophische Gesellschaft einerseits eine enorme Verbreitung. Es entstehen zahlreiche Initiativen und vielfältigste Aktivitäten, unter anderem:

    • 1910-1913 - Aufführungen der vier «Mysteriendramen» von Rudolf Steiner
    • 1917 - Bewegung für Soziale Dreigliederung
    • 1919 - Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart
    • 1920 - Gründung klinisch-therapeutischer Einrichtungen
    • 1922 - Gründung der religiösen Erneuerung, «Die Christengemeinschaft»

    Andererseits kommt es während und nach dem ersten Weltkrieg zu enormen Krisen innerhalb dieser Gesellschaft, deren Höhepunkt der Brand des ersten Goetheanums in der Silvesternacht von 1922/1923 ist.

  • Silvester 1922/1923: Der Brand des ersten Goetheanum
    Goetheanum
    Goetheanum, Goetheanunbrand

    Nachdem in der Silvesternacht von 1922/1923 nach einer Brandstiftung das erste Goetheanum den Flammen zum Opfer fällt, wird für Rudolf Steiner deutlich, dass die Anthroposophische Gesellschaft grundlegend neu strukturiert werden muss.

    Unmittelbar nach der Brandnacht, am 1. Januar 1923, spricht Rudolff Steiner vor einer Aufführung des Dreikönisgsspiels folgende Worte zu den anwesenden Zuschauern:

    «Meine lieben Freunde! Der große Schmerz versteht zu schweigen über dasjenige, was er fühlt. Und deshalb werden Sie mich auch verstehen, wenn ich ganz wenige Worte nur, bevor wir das Dreikönigsspiel beginnen, zu Ihnen spreche.
    Das Werk, welches durch die aufopfernde Liebe und Hingabe zahlreicher für unsere Bewegung begeisterter Freunde innerhalb von zehn Jahren geschaffen worden ist, ist in einer Nacht vernichtet worden. Es muß selbstverständlich gerade heute der schweigende Schmerz aber empfinden, wie viel unendliche Liebe und Sorgfalt unserer Freunde in dieses Werk hineingetan worden war. Und dabei möchte ich es zunächst, meine lieben Freunde, eigentlich bewenden lassen.»

    Rudolf Steiner:
    Das Schicksalsjahr 1923 in der Geschichte der Anthroposophischen Gesellschaft
    GA 259

    Einige Tage später sagt Rudolf Steiner zu Beginn des ersten Vortrages des Zyklus «Anthroposophische Gemeinschaftsbildung» in Stuttgart:

    «Das seit zehn Jahren im Bau begriffene Goetheanum in Dornach ist nicht mehr. Die Anthroposophische Gesellschaft hat diesen Bau verloren. Sie hat damit außerordentlich viel verloren. Man muß sich nur klarmachen, was aus der Anthroposophischen Gesellschaft durch den Bau des Goetheanums geworden ist, und man wird, wenn man die Größe des Verlustes in der richtigen Art sich allmählich vor Augen führt, auch die Größe des Schmerzes ermessen, für die es keine Worte gibt, die Größe jenes Schmerzes, der uns geworden ist durch die furchtbare Brandkatastrophe in der Neujahrsnacht 1922 auf 1923.»

    Rudolf Steiner:
    Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, 23. Januar 1923
    GA 260a

    Und am Ende dieses Vortrages weist Rudolf Steiner mahnend darauf hin, dass es nicht genügend sein kann, als engagierter und strebsamer Spezialist erfolgreich in einer Einrichtung der anthroposophischen Bewegung wie z.B. der Waldorfschule zu arbeiten. Alle die so als Spezialisten tätig sind,...

    «....sie mögen alle sich bewußt werden der Mutter, nämlich der Anthroposophischen Gesellschaft selbst, aus der all das entspringen muß und in der alle die einzelnen Spezialisten zusammenarbeiten müssen. Zuviel Spezialismus, ohne daß es in der richtigen Weise bemerkt worden ist, ist groß geworden unter uns; mancher so groß, daß er schon wieder klein ist, weil er der Mutter gar zu sehr vergessen hat. Möge der Dornacher Brand ein Wahrzeichen sein zu dem Willen, unsere Kräfte im Sinne der Anthroposophischen Gesellschaft recht zu erstarken, zu erstarken zu redlichem, ehrlichem Zusammenwirken.

    Rudolf Steiner:
    Anthroposophische Gemeinschaftsbildung, 23. Januar 1923
    GA 260a

    Die «Anthroposophische Gesellschaft», die «Mutter» und der «Quellort» aller anthroposophischer Initiativen, darf nicht vergessen werden – das fordert hier Rudolf Steiner.

  • 1923: Der Weg zu einer neuen «Anthroposophische Gesellschaft»

    Während des Jahres 1923 sucht Rudolf Steiner unaufhörlich nach den richtigen Antworten auf die Frage, welchen Weg die «Anthroposophische Gesellschaft» gehen muss, damit ein Wiederaufbau des Goetheanums zustande kommen kann.

    Es wird schnell deutlich, dass die «Anthroposophische Gesellschaft» so umgestaltet werden muss, dass ihre Form und Struktur dem Zeitgeist und dem modernen Menschen entspricht.

    «Soll ein Wiederaufbau zustande kommen, so ist dazu eine starke Anthroposophische Gesellschaft notwendig; denn ohne diese wäre ein Wiederaufbau nicht möglich. Also es muß einfach eine Konsolidierung, eine innere Festigung, ein deutliches Wollen der Anthroposophischen Gesellschaft zustande kommen.»

    Rudolf Steiner:
    Erdenwissen und Himmelserkenntnis, 9. Februar 1923
    GA 221

    Aber nicht nur die Gesellschaft muss sich verändern, auch deren Mitglieder müssen ein ganz neues Verhältnis zu dieser Gesellschaft entwickeln.

    «Die Anthroposophische Gesellschaft ist eine Vereinigung von Menschen, die als einzelne Menschen sehr strebsam sein können, aber als Gesellschaft ist sie im Grunde genommen noch gar nicht da, weil eben dieses Zusammengehörigkeitsgefühl nicht da ist, weil die wenigsten Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft sich als Repräsentanten dieser Gesellschaft fühlen. Es fühlt sich jeder als ein einzelner und vergisst ganz, dass es eine Anthroposophische Gesellschaft geben soll.»

    Rudolf Steiner:
    Geschichte und Bedingungen der Anthroposophischen Gesellschaft, 11. Juni 1923
    GA 258

    Auch das nachfolgenden Zitat macht deutlich: Eine Erneuerung der «Anthroposophischen Gesellschaft» wird nicht möglich sein, wenn sich deren Mitglieder nicht im Innersten ihres menschlichen Wesens verändern.

    «Anthroposophie wird sicher nicht aus der Welt geschafft. Aber sie könnte für Jahrzehnte und länger, ich möchte sagen, in einen latenten Zustand zurücksinken und dann später wieder aufgenommen werden. Es wäre aber Ungeheures verloren für die Entwickelung der Menschheit. Das muss bedacht werden, wenn man im Ernste an die Selbstbesinnung herantreten will, die ich eigentlich gemeint habe mit diesen Vorträgen. Aber ich habe ganz sicher nicht gemeint, dass man wiederum große Worte machen soll, da oder dort wiederum Programme aufsetzen soll, erklären soll: Wenn es sich um das oder jenes handelt, stellen wir uns ganz zur Verfügung. Das haben wir ja immer getan. Sondern dasjenige, um was es sich handelt, ist, dass wir in uns das innere Zentrum unseres Wesens finden. Wenn wir dieses Suchen nach dem inneren Zentrum unseres Wesens mit dem in dem anthroposophischen Weisheitsgut enthaltenen Geiste tun, dann finden wir auch den anthroposophischen Impuls, den die Anthroposophische Gesellschaft als ihre Lebensbedingung braucht.»

    Rudolf Steiner:
    Geschichte und Bedingungen der anthroposophischen Gesellschaft,
    Dornach 17. Juni 1923
    GA 258

    Erst gegen Ende dieses Jahres 1923 findet Rudolf Steiner die endgültigen Antworten und trifft die erforderlichen Entscheidungen. Er will die «modernste Gesellschaft die es geben kann» verwirklichen. Um dieses Ziel zu erreichen, lädt er zu einer Weihnachtstagung in Dornach ein, während der diese neue Gesellschaft begründet werden soll.

    Aber was ist denn nun so neu und so modern an dieser neuen und «modernsten Gesellschaft die es geben kann”?
    Was hat sich im Unterschied zur bisherigen «Anthroposophischen Gesellschaft von 1912-1923» verändert?

    • Rudolf Steiner wird selbst Mitglied (dies war bisher nicht der Fall)
    • Rudolf Steiner wird 1. Vorsitzender im Vorstand und übernimmt damit persönlich Verantwortung für diese Gesellschaft (dies war bisher nicht der Fall)
    • Die gleichzeitig neu eingerichtete «Freie Hochschule für Geisteswissenschaft» wird zum Zentrum ihres Wirkens
    • Alle Publikationen der Hochschule für Geisteswissenschaft werden öffentlich (die meisten Mitschriften der unzähligen Vorträge Rudolf Steiners wurden bis dahin nur für Mitglieder zum internen Gebrauch vervielfältigt)
    • Die «Anthroposophische Gesellschaft» ist so freiheitlich gestaltet wie nur möglich. Sie ist eine «durchaus öffentliche Gesellschaft»
    • Jeder Mensch kann Mitglied in dieser Gesellschaft werden, unabhängig von seiner Religion oder seiner wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung

    Es gibt im Grunde nur eine einzige «Bedingung» um Mitglied in dieser Gesellschaft werden zu können:

    «Ihr Mitglied kann jedermann ohne Unterschied der Nation, des Standes, der Religion, der wissenschaftlichen oder künstlerischen Überzeugung werden, der in dem Bestand einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht.»

    Rudolf Steiner:
    «Anthroposophische Gesellschaft»
    Paragraph 4 der Statuten

    Und weil dieser freiheitliche Aspekt der neuen «Anthroposophischen Gesellschaft» für Rudolf Steiner so wichtig ist, betont er bei der Vorstellung der Statuten nochmals mit Nachdruck, dass es im Grunde keinerlei Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft in dieser Gesellschaft gibt:

    «Sie sehen, meine lieben Freunde, es ist sogar die Vorsicht gebraucht, daß nicht einmal hier, wo es exakt darauf ankommen muß, wodurch man Mitglied werden kann, nicht einmal hier gesagt ist, daß derjenige, der Mitglied werden will, in dem Bestand des Goetheanums, sondern nur «einer solchen Institution, wie sie das Goetheanum in Dornach als Freie Hochschule für Geisteswissenschaft ist, etwas Berechtigtes sieht.» - Sie müssen sich alle einzelnen Wendungen dieses Statuten-Entwurfes entsprechend gründlich überlegen. Er ist kurz. Statuten sollen kurz sein, sollen nicht ein Buch darstellen; aber Sie werden sehen, es ist jede einzelne Wendung so zu geben versucht, daß sie aus dem unmittelbaren Bewußtsein heraus geschrieben ist.»

    Rudolf Steiner
    «Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» GA 260
    Eröffnungsvortrag, Statutenverlesung, 24. Dezember 1923

    Nach der Weihnachtstagung 1923/1924 und der Neubegründung der «Anthroposophischen Gesellschaft» schreibt Rudolf Steiner im Nachrichtenblatt an alle Mitglieder:

    «Der Anthroposophischen Gesellschaft eine Form zu geben, wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht, das war mit der eben beendeten Weihnachtstagung am Goetheanum beabsichtigt.»

    Rudolf Steiner:
    Briefe an die Mitglieder: Nachrichtenblatt, 13. Januar 1924
    GA 260a

  • 1923/1924: Die Weihnachtstagung

    Vom 24. Dezember 1923 bis zum 1. Januar 1924 findet in Dornach in der Schweiz die «Weihnachtstagung» mit der Gründungsversammlung der «Anthroposophischen Gesellschaft» statt. Aus der ganzen Welt kommend nehmen ca. 800 Menschen an dieser Versammlung teil.
    Im Folgenden sind fünf Stellen aus dem Eröffnungsvortrag zitiert, die zeigen, dass Rudolf Steiner bei dieser Neubegründung der «Anthroposophischen Gesellschaft» auf das hinweist, was sich in jedem einzelnen Mitglied verändern muss, damit diese Neugründung gelingen kann.

    «Wir beginnen unsere Weihnachtstagung zur Begründung der Anthroposophischen Gesellschaft in einer neuen Form im Anblicke eines scharfen Kontrastes. Wir haben Sie einladen müssen, meine lieben Freunde, zum Besuche eines Trümmerhaufens. Der Blick, den Sie auf unserer Stätte zuerst wiederum entfalten konnten, als Sie den Dornacher Goetheanumhügel bestiegen, fiel auf den Trümmerhaufen des vor einem Jahre zugrunde gegangenen Goetheanums. Und im wahrsten Sinne des Wortes ist ja dieser Anblick das so tief zum Herzen sprechende Symbolum für die äußere Offenbarung nicht nur unseres Arbeitens, unseres Strebens hier und in die Welt hinaus auf anthroposophischem Boden, sondern es ist dieser Blick auf einen Trümmerhaufen vielfach heute symptomatisch für die Weltverhältnisse überhaupt.»
    ...
    «Und wir werden die rechte Stimmung finden, meine lieben Freunde, für diese Weihnachtstagung, wenn wir regsam machen können in unserem Herzen die Empfindung, daß der Trümmerhaufen, vor dem wir stehen, Maja, Illusion ist, daß vieles von dem, das uns unmittelbar hier umgibt, Maja, Illusion ist.»
    ...
    «Anknüpfen wollen wir heute an dasjenige, woran wir so sehr gern angeknüpft hätten schon 1913. Da wollen wir den Faden wiederum aufnehmen, meine lieben Freunde, und wollen als obersten Grundsatz in unsere Seelen einschreiben für die anthroposophische Bewegung, die ihre Hülle haben soll in der Anthroposophischen Gesellschaft, daß alles in ihr geistgewollt ist, daß sie sein will eine Erfüllung desjenigen, was die Zeichen der Zeit mit leuchtenden Lettern zu den Herzen der Menschen sprechen.»
    .....
    «Nur wenn wir in dieser Art die anthroposophische Bewegung in uns selbst zu unserer tiefsten Herzensangelegenheit machen können, wird die Anthroposophische Gesellschaft bestehen. Wenn wir das nicht können, wird sie nicht bestehen. Denn das wichtigste von allem, was hier getan werden soll in diesen Tagen, ist zu tun in Ihrer aller Herzen, meine lieben Freunde. Was wir sagen und hören, wir werden es nur in der rechten Weise zum Ausgangspunkt für die Entwickelung der anthroposophischen Sache machen, wenn unser Herzblut dafür zu schlagen fähig ist. Und aus diesem Grunde eigentlich, meine lieben Freunde, haben wir Sie hierher gerufen, um im echten anthroposophischen Sinne eine Harmonie von Herzen hervorzurufen. Und wir geben uns der Hoffnung hin, daß gerade dieser Appell in der rechten Weise verstanden werden könne.»

    «...die Statuten sind in einer Weise abgefaßt, daß alles Verwaltungsmäßige, alles, was jemals durch sich selber Veranlassung geben könnte, in Bürokratie umzuschlagen, aus diesen Statuten heraußen ist. Diese Statuten sind auf das rein Menschliche eingestellt. Sie sind nicht eingestellt auf Prinzipien, sie sind nicht eingestellt auf Dogmen, sondern in diesen Statuten ist etwas gesagt, was rein an das Tatsächliche und Menschliche anknüpft,...»

    Rudolf Steiner:
    Eröffnungsvortrag zur «Weihnachtstagung» 1923/1924
    24. Dezember 1923
    GA 260

    Zum ersten Mal stellt Rudolf Steiner die Statuten vor, die in den folgenden Tagen von ihm erläutert und nach dreifacher Lesung von der Gründungsversammlung verabschiedet werden.

    Rudolf Steiner entwirft unmittelbar nach der Gründungsversammlung selbst die Logos für die Statuten und Mitgliedsausweise und lässt es sich nicht nehmen, für ca. 12.000 Mitglieder die neugestalteten Ausweise handschriftlich zu unterschreiben!

    Staututen der Anthroposophischen Gesellschaft
    Mitgliedskarte der Anthroposophischen Gesellschaft

    Nachfolgende Mitglieder werden von Rudolf Steiner für den Gründungsvorstand vorgeschlagen und von den anwesenden Gründungsmitgliedern der Weihnachtstagung per Akklamation bestätigt:

    • 1. Vorsitzender
      Dr. Rudolf Steiner
    • 2. Vorsitzender
      Albert Steffen
    • Schriftführer
      Dr. Ita Wegman
    • Beisitzer
      Frau Marie Steiner
    • Beisitzer
      Fräulein Dr. Elisabeth Vreede
    • Sekretär und Schatzmeister
      Dr. Guenther Wachsmuth

    Nach der Neubegründung der Anthroposophischen Gesellschaft stellt Rudolf Steiner in mehreren Vorträgen an verschiedensten Orten dar, weshalb diese Neugründung notwendig geworden war.

    «Es war dieser Weihnachtsimpuls dadurch notwendig geworden, daß eben die Entwicklung der Anthroposophischen Gesellschaft, seit sie selbständig geworden ist, sich losgelöst hat, herausgegliedert hat aus ihrem früheren äußeren Verbundensein mit der Theosophischen Gesellschaft, nicht jene Gestalt angenommen hat, von der ich gedacht habe, namentlich 1913, daß sie angenommen werden würde.»

    Rudolf Steiner:
    Ausführungen über die Weihnachtstagung
    Vor dem Vortrag in London, 24. August 1924
    GA 260a

  • 1923/1924: Die Grundsteinlegung während der Weihnachtstagung

    Die Gründungsversammlung der «Anthroposophischen Gesellschaft» während der Weihnachtstagung 1923/1924 ist keine Vereinsgründung im üblichen Sinne. Zwar werden über mehrere Tage hinweg Satzungen verabschiedet, die genau beschreiben, wie die Menschen, die sich als Mitglied dieser «Anthroposophische Gesellschaft» verstehen, zusammenarbeiten wollen. Wie bei jeder Vereinsgründung üblich, werden hier unter anderem die Ziele dieser Gesellschaft, das Aufnahmeverfahren, die Durchführung der Jahresversammlungen oder die Höhe der Mitgliederbeiträge beschrieben. Die Gründungsversammlung während der Weihnachtstagung ist also durchaus auch ein Akt des Rechtslebens. Dennoch haben wir es hier nicht mit einer Vereinsgründung im juristischen Sinne (nach Artikel 60ff. ZGB) zu tun.
    Wie die Statuten verstanden und eingeordnet werden sollen, davon spricht Rudolf Steiner mehrfach vor, während und nach dieser Gründungsversammlung.

    «...die Statuten sind in einer Weise abgefaßt, daß alles Verwaltungsmäßige, alles, was jemals durch sich selber Veranlassung geben könnte, in Bürokratie umzuschlagen, aus diesen Statuten heraußen ist. Diese Statuten sind auf das rein Menschliche eingestellt. Sie sind nicht eingestellt auf Prinzipien, sie sind nicht eingestellt auf Dogmen, sondern in diesen Statuten ist etwas gesagt, was rein an das Tatsächliche und Menschliche anknüpft,...»

    Rudolf Steiner
    Eröffnungsvortrag zur «Weihnachtstagung» 1923/1924 24. Dezember 1923
    GA 260

    «Dafür ist es notwendig, daß nun wirklich alle unsere Versammlungen in der Zukunft herausgehoben werden aus alledem, was man Vereinsmäßiges nennen kann. Anthroposophie braucht nicht das Vereinsmäßige im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Wo Anthroposophie wirklich Verständnis findet in den Herzen, da werden diese Herzen zusammen schlagen können, ohne daß die Köpfe aneinanderstoßen.»

    Rudolf Steiner
    Fortsetzung der Gründungsversammlung, 26. Dezember 1923
    GA 260

    «…wer in dem Lebendigen, das in Dornach lebt, etwas Berechtigtes sieht, schließt sich der Gesellschaft an. Es wird nicht auf abstrakte Grundsätze hingewiesen, sondern auf etwas Lebendiges, auf etwas, was da ist. Und es wird nicht das Leben der Gesellschaft in Form von Abstraktionen gefordert in diesen sogenannten Statuten, die eigentlich keine Statuten sind, sondern eine Erzählung desjenigen, was in Dornach besteht und was man von dort aus tun will. Erzählung sind diese, [nicht] Grundsätze, nicht Statuten.»

    Rudolf Steiner
    Ausführungen über die Weihnachtstagung, Stuttgart, 6. Februar 1924
    GA 260a

    «Daher sind auch nicht auf der Weihnachtstagung Statuten ausgearbeitet worden, wie sonst Statuten lauten, sondern es ist einfach gesagt worden, was da für ein Verhältnis sein soll von Mensch zu Mensch, zwischen Vorstand und anderen Mitgliedern, den einzelnen Mitgliedern untereinander und so weiter. Was der Vorstand beabsichtigen wird, das steht in demjenigen darinnen, was kein Statut ist, was nur die Form von Statuten angenommen hat, was aber eigentlich eine Erzählung von dem ist, was man tun will. Alles war eben anders, als es sonst bei Gesellschaften ist.»

    Rudolf Steiner
    Vortrag in Torquay, 12. August 1924
    GA 260a

    Die Gründungsversammlung der «Anthroposophischen Gesellschaft» während der «Weihnachtstagung» ist in allererster Linie eine Grundsteinlegung, bei welcher mit der «Grundsteinmeditation» ein Grundstein in die Herzen der Menschen gelegt werden soll, damit auf dieser Grundlage aufbauend die neue «Anthroposophische Gesellschaft» gebildet werden kann.

    Nach der Grundsteinlegung des 1. Goetheanums, nachdem dieses Bauwerk in der Silvesternacht ein Jahr davor den Flammen zum Opfer gefallen ist, spricht Rudolf Steiner jetzt von unseren Herzen, als dem rechten Boden, in den dieser Grundstein hineingelegt werden muss.

    Da wollen wir … als obersten Grundsatz in unsere Seelen einschreiben für die anthroposophische Bewegung, die ihre Hülle haben soll in der Anthroposophischen Gesellschaft, daß alles in ihr geistgewollt ist, daß sie sein will eine Erfüllung desjenigen, was die Zeichen der Zeit mit leuchtenden Lettern zu den Herzen der Menschen sprechen.»
    .....
    «Nur wenn wir in dieser Art die anthroposophische Bewegung in uns selbst zu unserer tiefsten Herzensangelegenheit machen können, wird die Anthroposophische Gesellschaft bestehen. Wenn wir das nicht können, wird sie nicht bestehen. Denn das wichtigste von allem, was hier getan werden soll in diesen Tagen, ist zu tun in Ihrer aller Herzen, meine lieben Freunde. Was wir sagen und hören, wir werden es nur in der rechten Weise zum Ausgangspunkt für die Entwickelung der anthroposophischen Sache machen, wenn unser Herzblut dafür zu schlagen fähig ist. Und aus diesem Grunde eigentlich, meine lieben Freunde, haben wir Sie hierher gerufen, um im echten anthroposophischen Sinne eine Harmonie von Herzen hervorzurufen. Und wir geben uns der Hoffnung hin, daß gerade dieser Appell in der rechten Weise verstanden werden könne.»

    Rudolf Steiner:
    Eröffnungsvortrag zur «Weihnachtstagung» 1923/1924
    24. Dezember 1923
    GA 260

    Mehrfach werden alle Anwesenden dazu aufgerufen, dabei selbst tätig zu werden! Die Anwesenden sind also nicht nur Betrachter oder Empfänger einer «kultischen Handlung», sondern sie werden zum Mitvollzug einer individuell zu erbringenden Tätigkeit aufgerufen.


    Am Ende der neuntägigen Weihnachtstagung, während einer geselligen Zusammenkunft mit Teebewirtung, erleidet Rudolf Steiner plötzlich und unerwartet einen körperlichen Zusammenbruch. Es ist eine Vergiftung, die ihn «wie ein Schwerthieb» trifft. Rudolf Steiner will aber offenbar nicht, dass viel darüber gesprochen wird, obwohl er in persönlichen Gesprächen offenbar selbst sagt, Opfer eines Vergiftungsanschlages geworden zu sein. Es gibt mehrere Zeitzeugen, die von diesem Anschlag sprechen, trotzdem wird diese Frage sowohl damals als auch in der Zeit danach nicht weiter thematisiert. Zu einer völligen Aufklärung kommt es daher bis heute nicht.

    Ich bin mir jedoch absolut sicher, dass wir es hier nach der Brandstiftung vor einem Jahr mit einem weiteren Angriff auf Rudolf Steiner und sein Lebenswerk zu tun haben. Der Vergiftungsanschlag war die Antwort der Gegner auf Steiners Entscheidung, der «Anthroposophischen Gesellschaft» eine neue Form zu geben «...wie sie die anthroposophische Bewegung zu ihrer Pflege braucht,...» sowie auf seinen Entschluss, zu diesem Zwecke als 1. Vorsitzender ganz persönlich die Verantwortung zu übernehmen.

    Marie Steiner beschreibt diesen Angriff rückblickend nach 20 Jahren mit folgenden Worten:

    «...«Etwas hatte sich auf dem Rout des 1. Januar ereignet, wovon er selbst sagte: Ich bin vergiftet. - Aber die Willenskräfte Dr. Steiners überwanden in täglicher ununterbrochener Arbeit auch dieses.»

    Marie Steiner, Manuskript
    «Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft»
    GA 260a

    «...unser menschliches und Gesellschaftskarma entlud sich auf ihn - und zwar unmittelbar nach Abschluß der Weihnachtstagung. Denn am letzten jener Tage, dem 1. Januar 1924, erkrankte er schwer und ganz plötzlich. Es war wie ein Schwerthieb, der sein Leben traf bei jener geselligen Zusammenkunft, die verbunden war mit einer Teebewirtung und dazugehörigen Zutaten, auf dem Programm als «Rout» verzeichnet. Trotzdem ist er bis zum 28. September, dem Tage, da er zum letzten Male zu uns sprach, unausgesetzt und bis zum Übermaß tätig gewesen. Seine schwindenden physischen Kräfte wurden von geistigem Feuer genährt und getragen und wuchsen über sich selbst hinaus. Zuletzt aber, nach den übermenschlichen Leistungen des Septembermonats, verzehrte die Macht dieser inneren Flamme auch ihn.
    In diesem tragischen Lichte steht die Weihnachtstagung für den, der die Möglichkeit hat, die Geschehnisse zu überschauen. Von der Schwere und dem Leide dieses Geschehens haben wir nicht das Recht, unsere Gedanken abzuwenden. Denn aus dem Leide kommt die Erkenntnis - aus dem Schmerze wird sie geboren. Und dieser Schmerz muß uns dazu führen, mit um so stärkerem Wollen unsere Aufgaben zu erfassen.»

    Marie Steiner:
    Jahresausklang und Jahreswende 1923/1924
    Vorwort zu: «Die Weihnachtstagung..»
    GA 260

  • Rudolf Steiners persönliches «Wagnis» mit der Weihnachtstagung

    Neben der Notwendigkeit dieser Neugründung weist Rudolf Steiner in Vorträgen an verschiedensten Orten mehrfach darauf hin, was es für ihn bedeutet hat, als Geisteslehrer die Vorstandsverantwortung als 1. Vorsitzender zu übernehmen und welche Folgen dies für ihn und seine Fähigkeiten als Geistesforscher hatte.

    Und weil dieser Hinweis Rudolf Steiners äußerst wichtig und von größter Bedeutung und Tragweite ist, führe ich gleich zwei Zitate mit sehr ähnlichem Wortlaut an:

    «Es war in gewissem Sinne ein Wagnis, in den Wochen vor der Weihnachtstagung zu dem Entschlüsse zu kommen, daß ich selbst den Vorsitz der Anthroposophischen Gesellschaft, wie sie nun vom Goetheanum aus begründet worden ist, übernehmen konnte. Denn bisher war es ja so, daß ich durchaus nur im Hintergrunde als Lehrer innerhalb der anthroposophischen Bewegung gelten wollte und offiziell kein Amt annahm. Es ist schwierig, mit all demjenigen, was in der geistigen Welt als Verpflichtung dem Lehrenden auferlegt ist, mit all den Verantwortlichkeiten gegenüber der geistigen Welt gerade in der heutigen Zeit die äußere Verwaltung der Gesellschaft zu übernehmen, die nun einmal die Verwaltung des Geistesgutes, des Weisheitsgutes der Anthroposophie zu ihrer Aufgabe hat. Allein, es mußte geschehen. Es war aber insofern ein Wagnis, als man natürlich vor der Eventualität stand, daß auch dadurch manches verlorengehen könnte von jenen spirituellen Strömungen, die einmal aus der geistigen Welt heute in die Menschenwelt herein wollen, und deren Empfangen die Aufgabe der anthroposophischen Bewegung ist.
    Nun darf aber gesagt werden, daß durchaus die Sache sich so dargestellt hat, daß nicht nur etwa seit der Weihnachtstagung kein Zurückstauen der Offenbarungen aus der geistigen Welt vorliegt, sondern im Gegenteil, daß sogar die geistige Welt mit einer viel größeren Wohlgefälligkeit herabsieht auf dasjenige, was durch die anthroposophische Bewegung in der Anthroposophischen Gesellschaft geschieht und daß die Gaben aus der geistigen Welt eigentlich seit dieser Weihnachtstagung wesentlich reicher geworden sind, so daß wir also auch in dieser esoterischen Beziehung durchaus mit voller Befriedigung auf die Weihnachtstagung zurückblicken dürfen.»

    Rudolf Steiner:
    Ausführungen über die Weihnachtstagung
    Vor dem Vortrag in London, 24. August 1924
    GA 260a

    «Was zu Weihnachten übernommen worden ist, war in gewissem Sinne ein Wagnis. Denn es war eine gewisse Eventualität vorhanden: diese, daß vielleicht – dadurch, daß die Leitung der Anthroposophischen Gesellschaft unmittelbar zusammengebracht wurde mit der Vertretung des spirituellen Weisheitsgutes – jene geistigen Mächte, welche in der geistigen Welt die anthroposophische Bewegung leiten, ihre Hände hätten abziehen können. Es darf gesagt werden, daß dies nicht der Fall war, sondern das Gegenteil ist der Fall: Mit einer größeren Gnade, mit einem höheren Wohlwollen kommen diese geistigen Mächte demjenigen entgegen, was durch die anthroposophische Bewegung fließt. Es liegt auch in einem gewissen Sinne ein Versprechen vor gegenüber der geistigen Welt. Dieses Versprechen wird in unverbrüchlicher Weise erfüllt werden, und man wird sehen, daß in der Zukunft die Dinge geschehen werden, wie sie der geistigen Welt gegenüber versprochen wurden. So daß nicht nur der anthroposophischen Bewegung, sondern auch der Anthroposophischen Gesellschaft gegenüber dem Vorstande eine Verantwortung auferlegt ist.»

    Rudolf Steiner:
    Ausführungen über die Weihnachtstagung
    Vor dem Vortrag in Arnheim, 18. Juli 1924
    GA 260a

    Ein dritte, sehr interessante und ausführliche Ausführung über die Weihnachtstagung, die Rudolf Steiner am 12. August 1924 in Torquay macht, ist hier in vollem Umfang als PDF nachzulesen.

  • 1924: Die Zeit nach der Weihnachtstagung

    Im Jahre 1924 geht Rudolf Steiner sofort an die Arbeit und organisiert alles Notwendige für die neugegründete «Anthroposophische Gesellschaft» sowie für die «Freie Hochschule für Geisteswissenschaft»

    • Für die über 12.000 Mitglieder weltweit wird ein Nachrichtenblatt eingerichtet.
    • Rudolf Steiner kümmert sich persönlich um alle Angelegenheiten der neuen «Anthroposophischen Gesellschaft».
    • Er entwirft Logos für die Mitgliederausweise und unterschreibt selbst alle ca. 12.000 Ausweise handschriftlich.
    • Rudolf Steiner führt die «Nachrichten für die Mitglieder» ein, in denen regelmäßig über die Vorgänge in der «Anthroposophischen Gesellschaft» sowie über die Aktivitäten der «Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» berichtet wird
    • Rudolf Steiner reist während seiner Vortragsreisen durch halb Europa. Dabei besucht er verschiedenste Landesgesellschaften und Zweige der «Anthroposophischen Gesellschaft», u.a. in Bern, Zürich, Stuttgart, Prag, Paris, Koberwitz, Breslau, Arnheim, Torquay und London, um über die Weihnachtstagung sowie die Freie Hochschule und deren Sektionen zu berichten.

    Über alle Vorgänge in der «Anthroposophischen Gesellschaft» und der «Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» werden die Mitglieder weltweit teils persönlich, teils über das Nachrichtenblatt genauestens informiert.

    Was dagegen gleichzeitig im «Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» geschieht, davon erfahren die Mitglieder der «Anthroposophische Gesellschaft» nur sehr wenig. Weshalb auch? Sie sind ja zum allergrößten Teil gar nicht Mitglied in diesem «Bauverein». Dieser kleine Verein hat 1924 neben den ungefähr 15 stimmberechtigten Mitglieder insgesamt noch ca. 400 fördernde Mitglieder.

    Eine kleine Anzeige im Nachrichtenblatt können die ca. 12.000 Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» allerdings lesen. Darin werden sie anlässlich der 4. außerordentlichen General-Versammlung des «Vereins des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» zu einer Vorversammlung eingeladen.

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    Mit dieser Anzeige wird im Nachrichtenblatt vom 1. Februar 1925 zu der 4. außerordentlichen General-Versammlung des «Vereins des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» am 8. Februar eingeladen.

    Diese Einladung betrifft allerdings nur die erwähnten etwa 15 stimmberechtigten und die etwa 400 fördernden Mitglieder dieses «Bauvereins».

    Die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» werden davor zu einer «Informations-Vorbesprechung» eingeladen.

    Aus dieser Einladung geht unmissverständlich hervor, dass wir es hier mit den bereits oben dargestellten zwei unterschiedlichen Institutionen zu tun haben.

    Anthroposophische Gesellschaft
    Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft

    Einladung
    zu einer Vorbesprechung


    Beginn um
    9.30 Uhr

    General-Versammlung:


    Beginn
    um 10.30 Uhr

    Ziel

    Information
    für die Mitglieder der
    «Anthroposophischen Gesellschaft»

    Ziel:

    Namensänderung,
    Änderung und Erweiterung der Aufgaben,
    Neugestaltung der Statuten

    Da es sich aber bei den Vorgängen um diesen wichtigen 8. Februar 1925 um solche des hierarchisch gegliederten «Bauverein» handelt, werde ich auf dieser Seite nicht weiter darauf eingehen.

    Was die Vorgänge rund um den «Bauverein», den «Philosophisch-Anthroposophischer Verlag» und das «Klinisch-Therapeutische Institut» betrifft, muss auf Seite «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» nachgelesen werden!

  • 22. März 1925: Mitteilung des Vorstandes

    Hinter dem 22. März 1925 verbirgt sich eine riesige Tragödie, die bis in die heutige Zeit reicht und nach wie vor ungeklärt ist!

    Nach dem Brand des 1. Goetheanums in der Silvesterncht 1922/1923 und nach dem Vergiftungsanschlag auf Rudolf Steiner beim ‹Rout› am 1. Januar 1924 muss der 1. Vorsitzende der «Anthroposophischen Gesellschaft» an diesem Tag noch einen weiteren Schwertstoß gegen sein Lebenswerk erfahren – nur 8 Tage nach diesem 22. März 1925 stirbt Rudolf Steiner!

    Was geschah an diesem Tag?

    Am 22. März 1925 erscheint im Nachrichtenblatt eine «Mitteilung des Vorstandes» an die 12.000 Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft». In dieser «Mitteilung des Vorstandes» wird den Mitgliedern von den Beschlüssen der Generalversammlung vom 8. Februar 1925 berichtet. Es wird aber nicht gesagt, dass dies eine Generalversammlung des «Bauvereins» war.

    Den Mitgliedern wird erklärt, wie die 4 bestehenden Institutionen oder «Strömungen»  –  die «Anthroposophischen Gesellschaft», der «Philosophisch-Anthroposophischer Verlag», das «Klinisch-Therapeutische Institut» und der «Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft»   –  künftig geführt bzw. zusammengeführt werden sollen. Um dies zu erklären, wird aus einer Darstellung Rudolf Steiners zitiert, die er am 29. Juni 1924 bei der 3. General-Versammlung des «Vereins des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» gemacht hatte. Rudolf Steiner wird aber in dieser «Mitteilung des Vorstandes» so zitiert, dass bei den Lesern der Eindruck entstehen muss, als ob sich diese Vorgänge und Veränderungen auf die «Anthroposophische Gesellschaft» der Weihnachtstagung beziehen würden. Dies ist aber nachweislich nicht der Fall.

    Leider ist bis heute nicht geklärt, wer diese Mitteilung verfasst und ins Nachrichtenblatt gebracht hat!
    Rudolf Steiner, der 1. Vorsitzende der Gesellschaft , kann diese Mitteilung jedenfalls weder geschrieben noch für die Veröffentlichung genehmigt haben!

    Warum nicht?

    Der damalige Leser kann diese «Mitteilung des Vorstandes» nur missverstehen! Für ihn wird nicht deutlich, dass es sich hier um Fragen des hierarchisch strukturierten «Bauvereins» handelt. Er kann die Ausführungen aus zweierlei Gründen nur auf die vor einem Jahr neugegründete, freie «Anthroposophische Gesellschaft» beziehen, denn:

    1. Er hat kaum Kenntnisse von den Vorgängen rund um den «Bauverein»

    2. Die zitierten Äußerungen Steiners sind gezielt gekürzt, so dass der Eindruck entstehen muss, es sei hier die Rede von der während der Weihnachtstagung gegründeten freien «Anthroposophischen Gesellschaft».

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    Aus dem oben abgebildeten Auszug aus dem Handelsregister von Dornach geht jedoch unmissverständlich hervor, dass am 8. Februar 1925 der «hierarchisch gegliederte Bauverein «Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» erweitert und umbenannt wurde in «Allgemeine Anthroposophhische Gesellschaft».

    Die «Anthroposophische Gesellschaft» der Weihnachtstagung bleibt von dieser Namensänderung und der Satzungserweiterung sowie der Neubesetzung der Vereinsvorstände des «Bauvereins» völlig unberührt.

    Es gibt demnach auch nach dem 8. Februar 1925 noch zwei «Institutionen»:

    Anthroposophische Gesellschaft
    Verein des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft

    Eine freie Mitgliedergesellschaft
    mit den Statuten
    der Weihnachtstagung

    Ein hierarchisch gegliederter Verein
    mit den geänderten Statuten
    des Bauvereins

    Jahrzehntelang wird diese «simple» Tatsache der zwei vorhandenen, ganz unterschiedlichen Institutionen von offizieller Seite abgestritten. Mitglieder, die öffentlich von diesen zwei unterschiedlichen Gesellschaften sprechen, werden als Gegner abgestempelt. Nicht viel anders geht es einzelnen Unterzeichnern des «Memorandums» aus dem Jahre 1986, in welchem die hier dargestellten Tatsachen im Wesentlichen so beschrieben werden.

    Da aber die Vorgänge um den 8. Februar den «Bauverein» bzw. die «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» betreffen und nicht die «Anthroposophische Gesellschaft», beschreibe ich die weiteren Details dazu wie bereits oben geschrieben auf der Seite «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft»

  • 30. März 1925: Rudolf Steiners Tod

    Rudolf Steiner liegt seit Michaeli 1924 im Krankenlager in seinem Atelier im Schreinereigebäude – und er wird diesen Raum nicht mehr verlassen. Aber bis zu seinem Tod am 30. März 1925 ist er trotzdem unermüdlich am Arbeiten. So bearbeitet und entscheidet er noch alle Vereins- und Gesellschaftsfragen und schreibt u.a. an seiner Autobiographie «Mein Lebensgang».

    Deshalb kann ohne jeglichen Zweifel davon ausgegangen werden, dass Rudolf Steiner die oben erwähnte «Mitteilung des Vorstandes», die mit «Der Vorstand der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» unterschrieben ist, gelesen hat. Das Lesen dieser Mitteilung wird ihn wie ein letzter Schwerthieb getroffen haben, denn er kann sie weder so verfasst noch so in Auftrag gegeben haben!

    Rudolf Steiner – der 1. Vorsitzende der «Anthroposophischen Gesellschaft» – wird mit dieser «Mitteilung», von wem auch immer, übergangen. Ihm wird sofort bewusst gewesen sein, dass diese «Mitteilung» eine absolute Verwirrung unter den Mitgliedern hervorrufen wird.

    Um sich nochmals gegen diesen erneuten Angriff aufbäumen zu können, fehlt dem Schwerkranken vermutlich die Kraft. Acht Tage danach stirbt Rudolf Steiner. Trotz vieler Anzeichen kommt sein Tod für viele überraschend.
    Auch für Marie Steiner kommt die Nachricht von der massiven Verschlimmerung des Krankheitszustandes überraschend – und zu spät! Sie arbeitet in Stuttgart und erfährt erst am Montagmorgen, dass Rudolf Steiner sterbenskrank ist. Sofort lässt sie sich mit einem Auto nach Dornach fahren, aber tragischer Weise kommt sie trotzdem erst etwa 2 Stunden nach Rudolf Steiners Tod dort an.

    Wie Rudolf Steiner die Gesamtstruktur rund um die »Anthroposophische Gesellschaft» der Weihnachtstagung in Verbindung mit der «Allgemeinen Anthroposophische Gesellschaft» initiierte, wird damals nicht wirklich verstanden.

    Unterschiedliche Interpretationen und Meinungsverschiedenheiten führen deshalb zu heftigsten Streitigkeiten unter Rudolf Steiners Schülern – mit verheerenden Auswirkungen bis in die heutige Zeit.


    Was zur Verteidigung der Streitenden jener Zeit aber gesagt werden muss: Ein wirkliches Verständnis der komplexen Vorgänge um die «Anthroposophische Gesellschaft» wurde erst möglich, nachdem im Jahre 1966 der Band 260a der Rudolf Steiner Gesamtausgabe veröffentlicht wurde. In diesem Band – «Die Konstitution der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft und der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» wurden 1966 erstmals wichtige Protokolle und Dokumente veröffentlicht, die es einem unbefangenen Blick ermöglichen, die Intentionen Rudolf Steiners in dieser Sache zu erkennen.

  • 29. Dezember 1925: Vorversammlung und 1. General-Versammlung

    Was haben die Vorgänge, die am 29. Dezember 1925 stattgefunden haben, mit Kaspar Hauser oder mit Dornröschen zu tun?

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    Wenn wir verstehen, was während der 1. ordentlichen General-Versammlung an diesem 29. Dezember 1925 sowie während der ummittelbar davor durchgeführten Vorversammlung geschehen ist, können wir die oben gestellte Frage leicht beantworten.

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    Eine in der Form identische Einladung wurde etwa 9 Monaten davor am 1. Februar 1925 im Nachrichtenblatt veröffentlicht. (Einladungen zum 8. Februar und 29. Dezember 1925)

    Damals wurde zur 4. ausserordentlichen General-Versammlung des «Vereins des Goetheanum der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft» eingeladen, der am 8. Februar in «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» umbenannt und in seinen Aufgaben und Zielen erweitert wurde.

    In der obigen Anzeige lädt nun der Vorstand dieser «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» zur «ersten ordentlichen General-Versammlung» am 29. Dezember 1925 ein.

    Wie schon vor neun Monaten wird unten in der Anzeige zu einer «Vorversammlung für die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» eingeladen. Man könnte demnach meinen, dass die für diese Einladung verantwortlichen Vorstände davon ausgehen, dass es nach wie vor zwei Institutionen gibt, also neben der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» die freie Mitgliedergesellschaft «Anthroposophische Gesellschaft». So wie diese Vorversammlung sowie die sich daran anschließende General-Versammlung verläuft, zeigt jedoch ganz deutlich, dass dies nicht der Fall ist. Es wird seit diesem Tag nicht mehr unterschieden zwischen diesen zwei völlig unterschiedlichen Institutionen. Alle Mitglieder der «Weihnachtstagungsgesellschaft» wurden als stimmberechtigte Mitglieder der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» behandelt. Damit wird deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt im Grunde keiner der Anwesenden die von Rudolf Steiner geschaffene, rechtliche Gesamtkonstellation von «Anthroposophischer Gesellschaft» und «Allgemeiner Anthroposophischer Gesellschaft» verstanden hat.

    An diesem Tag wird die von Rudolf Steiner gegliederte Vereins- und Gesellschaftskonstruktion fallen gelassen. An deren Stelle tritt mit diesem 29. Dezember 1925 eine Einheitsgesellschaft.

    Weshalb fehlte damals allen Beteiligten das Bewusstsein, die in dieser Sache vorhandenen Absichten Rudolf Steiners zu erkennen?

    • Die weltweit ca. 12.000 Mitglieder verstehen sich als Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» die zwei Jahre zuvor während der Weihnachtstagung 1923/1924 gegründet wurde
    • Diese Mitglieder kennen vor allem die von Rudolf Steiner gegebene Satzung der Weihnachtstagung (heute «Prinzipien» genannt) und fühlen sich dieser verbunden
    • Diese Mitglieder haben zum allergrößten Teil kaum Kenntnisse von dem im Handelsregister eingetragenen Verwaltungsverein «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» und dessen Vorgeschichte
    • Selbst prominente Anthroposophen haben keine Kenntnis von den Statuten dieses hierarchisch strukturierten Vereins, denn sie waren ja nie Mitglied in diesem Verein. Dies bezeugt auch ein Brief von Emil Leinhas an Albert Steffen
    • Die rechtsgültige Satzung dieses Vereins wird erstmals 1935 veröffentlicht, bis dahin bleibt sie den Anwesenden unbekannt
    • Für die allermeisten der führenden Anthroposophen stehen nicht die rechtlichen Gesellschafts- und Vereinsfragen im Vordergrund, sie sind mit gänzlich anderen Aufgaben beschäftigt, so beispielsweise auch die Vorstandsmitglieder Marie Steiner, Dr. Ita Wegman oder Dr. Elisabeth Vreede


    Wie im Einzelnen verliefen nun diese Versammlungen am 29. Dezember 1925?

    Zuerst sei gesagt, dass diese Versammlung für die weiteren Entwicklungen außerordentlich wichtig ist. Sie ist aber auch in vielerlei Hinsicht äußerst verwirrend. Um ein genaueres Bild davon zu bekommen, muss man das Versammlungsprotokoll lesen, darin wird man die Bestätigung des hier Gesagten finden.

    Die allermeisten Teilnehmer sind Mitglied in der «Weihnachtstagungsgesellschaft», nicht aber im erweiterten «Bauverein», der jetzt «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» heißt. Sie haben sich, um zur «Vorversammlung» eingelassen zu werden, mit der von Rudolf Steiner handschriftlich unterschriebenen rosa Mitgliedskarte der «Anthroposophischen Gesellschaft» ausgewiesen.

    Albert Steffen eröffnet um 10 Uhr die «Vorversammlung für die Mitglieder der Anthroposophischen Gesellschaft» und begrüßt im Namen des Vorstandes alle Anwesenden.

    Gleich nach der Begrüßung gibt Albert Steffen in TOP 1 zuerst einen kurzen Bericht des Vorstandes. Danach übernimmt Friedrich Rittelmeyer für TOP 2 das Wort. Er schlägt im Auftrag der Vorstände Albert Steffen zur Wahl als 1. Vorsitzender vor. Die Versammlungsteilnehmer begrüßen den Vorschlag durch zustimmenden Beifall.

    Anschließend werden verschiedenste Berichte und Beiträge gegeben. Diese betreffen mal die freie Mitgliedergesellschaft «Anthroposophische Gesellschaft», mal den Bauträgerverein des Goetheanums, also die «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft». Sogar über die Finanzsituation des Goethanums sowie über Finanzierungsmöglichkeiten eines Goetheanum-Neubaus wird in dieser Vorversammlung kurz berichtet.

    Nach einer guten Stunde gibt es eine Pause.

    Nach der Pause kommt der Amtsschreiber (Notar Furrer) dazu. Wiederum begrüßt Albert Steffen alle Anwesenden und eröffnet laut Protokoll die «erste ordentliche Generalversammlung der Anthroposophischen Gesellschaft». Ist dies ein Versprecher während der amtlichen Versammlung? Steffen meint natürlich die «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft e.V.» Es ist jedenfalls typisch, dass auch hier Unklarheit und ein Durcheinander herrscht!

    Alle anwesenden Mitglieder der «Weihnachtstagungsgesellschaft» sind nach der Pause weiter dabei geblieben. Nun werden sämtliche Tagesordnungspunkte der «Vorversammlung» nochmals im Eilverfahren wiederholt! Alle Anwesenden stimmen bei der Wahl Albert Steffens zum 1. Vorsitzenden ab und stimmen danach auch für die Entlastung des Schatzmeisters des Vereins, Günther Wachsmuth. Alle Teilnehmer der «stark besuchten Versammlung» stimmen munter mit ab, obwohl sie größtenteils nich Mitglied in diesem Verein sind und ohne die gültige Satzung dieses Vereins zu kennen. Dies stellt drei Monate später ein führendes Mitglied, Emil Leinhas, in einem Brief an Albert Steffen fest!

    Bei all diesen Vorgängen wird also kein Unterschied mehr gemacht zwischen den wenigen stimmberechtigten Mitgliedern der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft e.V.» und den zahlreichen Mitgliedern der «Anthroposophischen Gesellschaft», die bei dieser «amtlichen Versammlung» gar kein Stimmrecht haben! Die freie Mitgliedergesellschaft und der im Handelsregister eingetragene Verein werden als eine Einrichtung behandelt.

    Weder während dieser General-Versammlung noch in den Jahren danach bemerkt jemand, dass damit die während der Weihnachtstagung neu gegründete «Anthroposophische Gesellschaft» faktisch verschwindet und vom Verwaltungsverein «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» verschluckt wird.

    Wie sollten die damaligen Mitglieder dies auch bemerken? Alle fühlen sich verbunden mit der «Weihnachtstagungsgesellschaft», mit der «modernsten Gesellschaft die es geben kann». Alle haben sich die vor zwei Jahren verabschiedeten Statuten dieser «Anthroposophischen Gesellschaft» zum Ideal gemacht.

    Sie glauben, dies wäre jetzt alles eine Gesellschaft, ein Verein, und alles sei so von Rudolf Steiner gewollt und geschaffen. Aber keiner von ihnen kennt die geltenden Statuten des Verwaltungsvereins, die nichts mit den Statuten der Weihnachtstagung zu tun haben.

    Niemand bemerkt und ist sich darüber bewusst, dass ab diesem Tag die «freiheitlichen« Statuten der Weihnachtstagung keine Gültigkeit mehr haben. Niemand weiß, dass jetzt ganz andere, völlig unbekannte Statuten rechtsverbindlich geworden sind. Diese Vereins-Statuten, die für den Bauträgerverein «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» geschaffen wurden, sind den Mitgliedern hier und in der ganzen Welt bis 1935 völlig unbekannt, denn erst 10 Jahre später werden diese Vereinsstatuten erstmals veröffentlicht! (siehe Seite: «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft»

    Die Situation am beziehungsweise nach dem 29. Dezember 1925 stellt sich also wie folgt dar:

    Anthroposophische Gesellschaft                 

    10 Uhr
    Die 12.000 Mitglieder
    sind zu einer
    Vorversammlung
    eingeladen


    Freie "Mitglieder-Gesellschaft"

    Viele Mitglieder weltweit
    (ca. 12.000)


    Die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» stimmen in Angelegenheiten der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» mit ab…

    Pasted Graphic

    Die
    «Anthroposophische Gesellschaft»
    tritt ab diesem Zeitpunkt als
    eigenständiger «Verein«
    nicht mehr ihn Erscheinung,
    sie verfällt in einen


    «
    Dornröschenschlaf»

    der bis heute anhält!
         

    Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft

    11.30 Uhr
    Die wenigen Mitglieder
    sind zu einer
    Generalversammlung
    eingeladen


    Hierarchisch gegliederter Verein

    Wenige stimmberechtigte Mitglieder
    (vor der Namensänderung nur 15)




    …und treten dadurch, ohne es selbst zu bemerken, diesem «Verwaltungsverein» bei.

    ⬇︎


    Die
    «Anthroposophische Gesellschaft»
    ist eingesperrt und gefangen im
    Verwaltungsverein
    «Allgemeinen Anthroposophische
    Gesellschaft»
    mit ihren hierarchischen Statuten
    und erfährt so ihr

    «
    Kaspar Hauser Schicksal»

    der Gefangenschaft,
    welches bis heute anhält!

    Ob «Dornröschenschlaf» oder «Kaspar Hauser Schicksal», beide Bezeichnungen können auf das angewendet werden, was am und nach dem 29. Dezember 1925 mit der «Anthroposophischen Gesellschaft» geschehen ist.

    Bis 2025 werden 100 Jahre verstrichen sein, solange schläft im Märchen die Prinzessin.
    Es ist zu hoffen, dass den heutigen Verantwortungsträgern der «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» der Mut erwachsen wird, die entschlafene, «modernste Gesellschaft die es geben kann» wieder zum Leben zu erwecken!

    Wann kommt der Prinz, der die Schlafende erlösen wird?

  • 1935: Die Mitgliederausschlüsse

    Die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» werden, wie oben dargestellt, während der Generalversammlung am 29. Dezember 1925 ohne es zu bemerken Mitglied im Verwaltungsverein «Allgemeine Anthroposophischen Gesellschaft». Dies ist zwar sehr verwunderlich, aus heutiger Sicht aber aus folgenden Gründen durchaus erklärbar:

    1. Die Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» sind stark mit den Impulsen der «Weihnachtstagung» verbunden und kennen nur die Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft, die während der Weihnachtstagung 1923 verabschiedet worden waren.
    Von den rechtlichen Grundlagen und vom Status quo des Verwaltungsvereins «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» haben sie kaum Kenntnis, deren rechtsgültigen, «behördlichen» Statuten werden ihnen erst 1935 bekannt gemacht (s. u.).

    2. Den Mitglieder der «Anthroposophischen Gesellschaft» ist nicht bewusst, dass sie mit der Versammlung am 29. Dezember 1925 faktisch Mitglied in einem ganz anderen Verein geworden sind.

    3. Vor allem wissen sie nicht, dass seit der Versammlung am 29. Dezember 1925 die Statuten der «Weihnachtstagung» ihre Rechtsverbindlichkeit verloren haben und dass diese seit diesem Zeitpunkt durch die ihnen völlig unbekannten Statuten des Verwaltungsvereins «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» ersetzt wurden.

    4. Die Mitglieder haben mit Rudolf Steiners Tod ihren Lehrer und Meister verloren. Seitdem stehen für die allermeisten Mitglieder ganz andere als vereinsrechtliche Fragen im Vordergrund, so beispielsweise:

    • Fragen zum Testament Rudolf Steiners
    • Die Frage des Nachfolgers für Rudolf Steiner
    • Fragen zum Umgang mit dem Nachlass des Werkes von Rudolf Steiner
    • Fragen zur Gestaltung und Leitung der Freien Hochschule

    Bei der Suche auf die richtigen Antworten kommt es sehr schnell zu Meinungsverschiedenheiten, danach zu heftigen Auseinandersetzungen und zuletzt zu entsetzlichen Zerwürfnissen, gegenseitigen Beschuldigungen und Anfeindungen. Sich gegenseitig bekämpfende Gruppen sind die notwendige Folge.

    Ein erster trauriger Höhepunkt dieser Streitigkeiten ist die Mitgliederversammlung im Jahre 1935. Während dieser Versammlung werden die beiden Vorstandsmitglieder Ita Wegman und Elisabeth Vreede sowie deren «Anhänger» aus dem Verein «Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft» ausgeschlossen!

    Die weltweit über 17.000 Mitglieder erfahren von diesen Ausschlüssen, können aber nicht verstehen, weshalb ein solcher Ausschluss möglich ist. Sie können es unmöglich verstehen, denn sie kennen ja nur die Statuten der Mitgliedergesellschaft «Anthroposophischen Gesellschaft». Nach diesen Statuten ist aber ein solcher Mitgliederausschluss gar nicht möglich.

    Der Vorstand steht nun vor der schwierigen Aufgabe, den erstaunten Mitgliedern die Rechtmäßigkeit dieser Mitgliederausschlüsse begründen zu müssen. Diese undankbare Aufgabe muss der Jurist Dr. Günther Wachsmuth übernehmen, der als Sekretär und Schatzmeister in erster Linie für diese Fragen zuständig ist.

    In diesem Zusammenhang werden nun zum ersten Mal die rechtsgültigen «behördlichen» Statuten im Nachrichtenblatt für die Mitglieder veröffentlicht. In diesen Statuten des Verwaltungsvereins «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» findet sich u.a. auch der «Ausschluss-Paragraph», der ja ganz und gar nicht zu einer «modernsten Gesellschaft die es geben kann» passt!

    Später bekommen alle Mitglieder ein rosa Heftchen in die Hand, indem die sowohl die «behördlichen», also rechtsverbindlichen Statuten der «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» sowie die «Statuten der Weihnachtstagung» abgedruckt sind, die dann «Prinzipien» genannt werden.

    • 1. Die Vereinsstatuten
      sie sind rechtsverbindlich und ermöglichen u.a. die 1935 beschlossenen Mitgliederausschlüsse
    • 2. Die «Prinzipien
      sie haben keinerlei Rechtsverbindlichkeit, nach ihnen soll und darf gehandelt werden, muss aber nicht!
  • Die Anthroposophischen Gesellschaft heute

    Seit den Ausschlüssen der beider Vorstände Dr. Ita Wegman und Dr Elisabeth Vreede sowie zahlreicher Mitglieder im Jahre1935 ist den Mitgliedern die Widersprüchlichkeit zwischen den verbindlichen «Vereinsstatuten» und den unverbindlichen «Prinzipien», den Statuten der Weihnachtstagung, bewusst. Aber viele Mitglieder können diese Diskrepanz zwischen dem was gilt, und dem was gelten soll, weder verstehen noch akzeptieren.

    Es kommen endlos viele Fragen auf:

    • Ist das, was in den zurückliegenden Jahren an Rechtsformen entstanden ist, im Sinne Rudolf Steiners?
    • Wie stellte sich Rudolf Steiner die Gesamtstruktur von Verein und Gesellschaft vor?
    • Was machte und was entschied Rudolf Steiner?
    • Was wurde ohne sein Wissen gemacht und entschieden?
    • Wurde er bei diesen Rechtsvorgängen womöglich hintergangen?

    Dabei kommt es, wie kann es auch anders sein, zu unterschiedlichen Interpretationen, in der Folge zu heftigen Streitigkeiten, zu gegenseitigen Unterstellungen und zuletzt zu übelsten Beschimpfungen und gegenseitigen Beleidigungen.

    Ein vorläufiger Höhepunkt dieser Auseinandersetzung ist der Angriff von Dr. Roman Boos gegen Dr. Günther Wachsmuth, der als Sekretär die Verantwortung für diese «Zwei-Statuten-Lösung» trägt.

    Nach diesem Angriff von Roman Boos ist Dr. Wachsmuth gezwungen sich zu rechtfertigen. Dazu veröffentlicht er am 30. April 1950 im Nachrichtenblatt für die Mitglieder eine Rechtfertigung mit der Überschrift «Notwendige Abwehr». Darin begründet er seine Entscheidungen und Handlungen als Vereins-Sekretär.

    Schon an der gewählten Überschrift wird deutlich, in welcher Begründungsnot sich Dr. Wachsmuth befindet. Er behauptet, Rudolf Steiner habe gewollt, dass die «Anthroposophische Gesellschaft», die zu Weihnachten 1924 gegründet wurde, als Verein ins Handelsregister eingetragen werden sollte. Dadurch seien die Statuten des Vereins «Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft» verbindlich und rechtsgültig geworden.

    Leider haben sich diese und andere widersprüchliche Aussagen von Dr. Wachsmuth im «Geschichtsverständnis der Mitgliedschaft» soweit verfestigt, dass sie bis zum heutigen Tag verhindern, das

    «Kaspar-Hauser-Schicksal der Anthroposophischen Gesellschaft»

    zu überwinden

  • Links zum Thema

    Statuten der Anthroposophischen Gesellschaft (heute leider «Prinzipien» genannt)



    Zur Lage der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft
    Probleme – Versäumnisse – Aufgaben
    Ein Memorandum


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